Am 1. Juli 2020 hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Es ist keine Präsidentschaft wie jede andere. Der Vorsitz steht ganz im Zeichen der Eindämmung der Folgen der Covid-19-Pandemie. Die Überwindung der Gesundheitskrise und die Beförderung der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Erholung innerhalb der EU bestimmen die Tagesordnung. Das Motto der Präsidentschaft verdeutlicht, dass in der aktuellen Polykrise nur ein gemeinsames europäisches Handeln zukunftsweisend sein kann, und dass Deutschland gewillt ist, als „ehrlicher Makler“ und Brückenbauer zu fungieren und Führung zu übernehmen.
Wie tief die Krise der europäischen Integration tatsächlich ist, hat nicht zuletzt die Sitzung des Europäischen Rats vom 17. bis 21. Juli 2020 in Brüssel verdeutlicht. In der quälend langen Sitzung der europäischen Staats- und Regierungschefs wurde über den europäischen Wiederaufbaufonds und den zukünftigen EU-Haushalt inklusive eines Rechtsstaatskriteriums mit einer Schärfe und Bissigkeit gefeilscht und gestritten wie selten zuvor. Als Ratspräsident Charles Michel am Ende des mehr als 90-stündigen Sitzungsmarathons davon sprach, dass die „Magie des europäischen Projekts lebe“, rieb sich manch´ ein Beobachter verwundert den Schlaf aus den Augen. Dieser Rat mag viele Attribute verdient haben, „magisch“ war er nicht, eher „äußerst ernüchternd“, aber letztlich immerhin ein erster Erfolg, auch der deutschen Ratspräsidentschaft.
Doch damit ist nur eine von vielen Hürden genommen. Das Arbeitspensum für das zweite Halbjahr erschöpft sich nicht darin, den Brexit möglichst geregelt abzuschließen oder den Mehrjährigen Finanzrahmen zu verabschieden und den Wiederaufbaufonds möglichst zügig über die nationalen Reformpläne umzusetzen. Daneben gilt es u.a. die Umsetzung des europäischen Grünen Deals voranzubringen, den Startschuss zur Konferenz zur Zukunft der EU zu setzen, den Rechtsstaatsmechanismus weiterzuentwickeln sowie einen Fahrplan zur Umsetzung des Neuen Pakts für Migration und Asyl auszuarbeiten, um nur eine Auswahl an Themen zu nennen, die aus Sicht der Zivilgesellschaft ein besonderes Augenmerk verdient haben.
In ihrer Rede zur Lage der Nation hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bekräftigt, an dem Ziel festzuhalten bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden, und dies durch eine Senkung der C0²-Emissionen bis 2030 auf nunmehr mindestens 55% zu erreichen. Es liegt nun, nicht zuletzt an der deutschen Präsidentschaft die Mitgliedsstaaten auf dieses Ziel einzuschwören, den Transformationsprozess möglichst auch sozial abzufedern und dafür Sorge zu tragen, dass die EU auch im Hinblick auf die 26. UN-Klimakonferenz in Glasgow mit einer einheitlichen Position auftritt.
Die Konferenz über die Zukunft Europas ist ein Element, um die Krise als Chance zu nutzen. Möglichst dezentral organisiert sollte in verschiedenen Foren in den Mitgliedsstaaten von EU-Bürgerinnen und Bürgern neue Impulse für die Vertiefung der europäischen Einigung gesetzt und notwendige Reformen angestoßen werden. Doch nicht nur im Gesundheitsbereich, wie von Präsidentin von der Leyen angeregt, sondern durchaus auch im Hinblick auf die Wahl des/der Kommissionspräsidenten/-in, ist die Mitsprache junger Menschen wichtig.
Angesichts der weiterhin bestehenden Uneinigkeit zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat über die Finalität und die Rahmenbedingungen der Konferenz ist es an der deutschen EU-Ratspräsidentschaft dafür Sorge zu tragen, dass möglichst bald Klarheit über die erstrebte Zielrichtung etwa im Hinblick auf mögliche Vertragsänderungen herrscht und der Startschuss zu der Konferenz gegeben wird.
Die Rechtstaatlichkeit in der EU ist und bleibt ein Streitthema und ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit des Staatenverbundes nach innen und außen. Der Art. 7 - Mechanismus hat sich aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses als zahnloser Tiger erwiesen und konnte sich daher nicht bewähren. Für die deutsche Ratspräsidentschaft gilt deshalb, eine Kultur der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU als Rechtsgemeinschaft zu fördern und den neuen jährlichen Bericht der EU-Kommission über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU und ihren Mitgliedsstaaten zum Ausgangspunkt für einen ehrlichen Dialog der Staaten untereinander über problematische Entwicklungen zu nehmen. Darüber hinaus sollte sie darauf hinwirken, dass auch im neuen EU-Haushalt ein wirksamer Rechtsstaatsmechanismus verankert wird, so dass die Auszahlung von EU-Mitteln erstmals an die Achtung der Rechtsstaatlichkeit geknüpft wird.
Nicht zuletzt die verheerenden Brände im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos haben der Welt erneut die unwürdigen Lebensbedingungen der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen vor Augen geführt. Die EU-Asyl- und Migrationspolitik bleibt dringend reformbedürftig und ist in ihrer aktuellen Form einer Werteunion unwürdig. Deshalb richten sich alle Blicke gespannt auf den für von der EU-Kommission schon seit März 2020 angekündigten Pakt für Migration und Asyl, der einen Neustart in der Asyl- und Migrationspolitik einleiten soll. Ebenso wie anhand des Umgangs mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit erweist sich anhand des Umgangs mit Schutzsuchenden und Migranten, ob die EU auch in Zukunft ihren eigenen hohen Ansprüchen gerecht wird oder die Tendenz zu Spaltung und Entsolidarisierung sich fortsetzt. Für die deutsche Ratspräsidentschaft bleibt wenig Zeit, um diesem kontroversen und spannungsgeladenen Thema die entscheidenden Impulse zu geben, und ein Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität unter den Mitgliedsstaaten beim Umgang mit Flüchtlingen und Migranten wiederherzustellen. Seitens der Zivilgesellschaft besteht aber die Erwartung, dass es ihr gelingt, einen Fahrplan für die nächsten Monate zu erarbeiten, der von allen Mitgliedsstaaten mitgetragen wird und der das Recht der Schutzsuchenden auf ein faires Asylverfahren in der EU sicherstellt, menschenunwürdige Unterbringung wie jene auf den griechischen Inseln beendet, eine gerechte und solidarische Verteilung der Flüchtlinge in der EU umfasst sowie einen dauerhaften Seenotrettungsmechanismus und sichere und legale Wege in die EU für Schutzsuchende und Migranten etabliert.
Die Herausforderungen sind immens, die Erwartungen riesig. „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ lautet das Motto der Präsidentschaft. Organisationen der Zivilgesellschaft und auch die Kirchen stehen bereit, sich mit Ideen und Know-how in den genannten Themenfeldern und darüber hinaus gemeinsam mit der Präsidentschaft zu engagieren. Viel wäre zudem gewonnen, wenn Deutschland die Erfahrungen aus der Präsidentschaft unter diesen schwierigen Vorzeichen soweit verinnerlichen könnte, dass die Europapolitik als Querschnittsthema endlich in der Bundespolitik den Stellenwert erhält, den sie verdient hat. Die engagierte Rolle Deutschlands und der Schulterschluss mit Frankreich im Vorfeld der Verhandlungen um den EU-Haushalt und den Wiederaufbaufonds könnten hier als Zeichen für ein Umdenken zu deuten sein. Erstmals nimmt die EU für den Wiederaufbaufonds Schulden durch Anleihenkäufe an den Finanzmärkten auf und will sich im Umkehrschluss auch eigene Einnahmequellen u.a. aus Steuern erschließen. Das ist ein absolutes Novum und könnte ein Schritt hin zu einer vertieften EU-Integration bedeuten. Bundesfinanzminister Olaf Scholz sprach gar von einem „Hamiltonian Moment“ in Erinnerung an den ersten US-amerikanischen Finanzminister Alexander Hamilton, der im 18. Jahrhundert mit der Übernahme der Schulden der Bundesstaaten wesentliche Voraussetzungen für den föderalen Bestand der Vereinigten Staaten von Amerika schaffte. Vielleicht erweist sich die Krise letztlich doch als Chance für das geeinte Europa.
Autorin: OKR´in Katrin Hatzinger