Make or Break the Rule of Law

Lesen Sie den Veranstaltungsbericht unserer spannenden virtuellen Konferenz zum ersten Kommissionsbericht über Rechtstaatlichkeit in der EU, die am 15. Oktober mit Justizkommissar Reynders stattfand und von unserem Vorsitzenden Prof. Frank Hoffmeister moderiert wurde.

Auf Einladung der Europa Union Deutschland, Ortsverband Brüssel, haben Justizkommissar Didier Reynders, der slowakische EP-Abgeordnete Michal Šimečka (Renew Europe), Christian Wild für die deutsche Ratspräsidentschaft und Frau Professorin Angelika Nussberger (Mitglied der Venedig Kommission des Europarates und frühere EGMR-Vizepräsidentin) unter der Moderation des Vorsitzenden des Verbands Brüssel Prof. Frank Hoffmeister am 15. Oktober 2020 online über den 1. Kommissionsbericht über die Rechtsstaatlichkeit in der EU diskutiert.

Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union wird seit geraumer Zeit auf vielen Ebenen und mit Blick auf eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten erörtert. Derzeit laufen zwei Verfahren nach Artikel 7 I EUV, die gegen Polen (von der Kommission im Dezember 2017) und Ungarn (durch das EP im September 2018) ausgelöst wurden. Die beiden Anträge zielen darauf ab, dass der Rat eine schwerwiegende Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in diesen beiden Ländern mit 4/5 Mehrheit feststellen soll. Sollte der Europäischen Rat anschließend sogar eine Verletzung dieser Grundsätze befinden, könnten diesen beiden Ländern die Stimmrechte entzogen werden. Aber auch Malta, Rumänien und Bulgarien, Slowakei und andere Mitgliedstaaten haben immer wieder Anlass zu Sorgen mit Blick auf z.B. Korruption und Medienpluralismus geboten. Die Kommission hat jetzt einen neuen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit etabliert, dessen zentrales Element ein jährlicher Rechtstaatsbericht über die Situation in allen Mitgliedstaaten sein wird. Der erste Bericht dieser Art wurde am 30. September 2020 veröffentlicht.

Kommissar Reynders stellte zu Beginn den Bericht und seinen Kontext vor. Mit dem Bericht zur Rechtsstaatlichkeit 2020 würden sowohl positive als auch negative Entwicklungen auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit in den 27 Mitgliedstaaten beobachtet. Er umfasse vier Pfeiler: das Justizsystem, den Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus sowie sonstige institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung. Der Prozess der Erstellung sei in hohem Maße transparent und in enger Abstimmung mit den jeweiligen Mitgliedstaaten verlaufen. Mit 130 virtuellen Erkundungsmissionen habe man den Sachverhalt umfassend erhoben. Der letzte Entwurf wurde allen Mitgliedstaaten vor Veröffentlichung zur Durchsicht gegeben mit der Möglichkeit, noch einmal Korrekturwünsche vorzutragen. Es sei ganz ausdrücklich nicht um „naming and shaming“ gegangen, sondern darum, mit allen Mitgliedstaaten in einen dauerhaften und auf Kooperation angelegten Dialog zu gelangen. Er hob auch hervor, dass es auch gelungen sei, sofort nach Erscheinen des Berichts Anfang Oktober im Rat über den Bericht zu beraten und die deutsche Präsidentschaft die ersten fünf Länderberichte für eine weitere Sitzung auf die Tagesordnung gesetzt habe.

MEP Šimečka begrüßte den vorgelegten Bericht ganz ausdrücklich. Er sei sehr sorgfältig und umfassend erstellt worden. Es mangele aber leider an konkreter Reaktion auf die festgestellten Defizite. Die Gefahren für die Werte des Artikels 2 EUV seien imminent und erforderten sofortiges Handel. Er machte für das EP sehr deutlich, dass ein wirksamer Sanktionsmechanismus bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit eine „rote Linie“ des EP im Rahmen der laufenden Verhandlungen zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen und dem Corona Wiederaufbauprogramm sei. Es dürften keine Abstriche am Umfang der Prüfung und am Entscheidungsmechanismus gemacht werden. Denn wenn die umgekehrte qualifizierte Mehrheit im Rat gekippt werde, drohe das neue Instrument leer zu laufen. Das angedrohte Veto aus Polen und Ungarn, in einem solchen Fall das ganze Finanzpaket platzen zu lassen, stimme ihn ärgerlich. Es dürfe nicht sein, „dass Orban die EU erpresse“.

Frau Prof. Nussberger hob hervor, dass der Bericht eine sehr gute Methode sei, um negative und positive Aspekte in allen Mitgliedstaaten zu ermitteln. Schwierige Fragen der Unabhängigkeit der Gerichte stellten sich auch in einigen west-europäischen Staaten. Auch entkräfte der Bericht die gängige Verteidigungslinie aus Warschau und Budapest, die EU messe mit zweierlei Maß und habe es nur auf Osteuropa abgesehen.  Allerdings diskutierten die Institutionen, „anstatt den bereits vorhandenen Brand zu löschen“. Denn wenn Richter bereits entlassen und neue Richter ernannt sein, werde es im Laufe der Zeit immer schwieriger, das „juristische Chaos“ zu verhindern. So gesehen, hätte der Bericht schon wesentlich früher kommen sollen.

Herr Wild betonte für die deutsche Ratspräsidentschaft, dass der neue Mechanismus vor allem dazu diene, Vertrauen und Kooperation zu fördern. Die Rechtsstaatlichkeit solle zu etwas werden, was die Mitgliedstaaten eine. Die Verhandlungen zur Rechtsstaatskonditionalität im Finanzbereich stünden jetzt am Anfang, und die Atmosphäre im ersten Trilog sei gut gewesen.

Auf diese Punkte eingehend betonte Kommissar Reynders , der Bericht sei nur ein zusätzliches Instrument, um sicherzustellen, dass die Diskussion auf einer einheitlichen Faktenbasis erfolgt. Viele Jahre habe man gebraucht, um in intensiven Diskussionen über die „Maastricht-Kriterien“ europäische Instrumente der wirtschaftspolitischen Koordinierung zu finden. Für die einst im Erweiterungsprozess entwickelten Kopenhagen-Kriterien (demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.) müsse man einen solchen Prozess jetzt entwickeln und der Rechtsstaatlichkeitsbericht sei hierfür ein wichtiger Teilaspekt.

In der anschließenden Online Fragestunde kam auch die Frage auf, inwieweit der EuGH über diese Fragen zukünftig Recht sprechen könne. Prof. Nussberger wies darauf, dass der Gerichtshof sogar einstweilige Anordnungen in Bezug auf die polnischen Disziplinarverfahren gegen unbotmäßige Richter erlassen habe. Viele Richter hätten auch Klage in Straßburg vor dem Menschenrechtsgerichtshof eingereicht. Die Justiz könne also ihren Teil beitragen, allerdings werde die Situation dann schwierig, wenn die Urteile nicht umgesetzt würden, was leider teilweise derzeit in Polen der Fall sei.

MEP Šimečka und Herr Wild unterstrichen abschließend, dass es für die Glaubwürdigkeit der „gemeinsamen Werte“ entscheidend sei, das Momentum des Rechtsstaatsberichts nun zu nutzen, um diese Fragen voranzubringen.

Autor: Dr. Lars Friedrichsen