Eine Gesundheitsunion für Europa

Die Corona-Pandemie hat uns insbesondere zu Beginn gezeigt, wie unterschiedlich der Umgang mit der Eindämmung des Virus in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten ist.

Die Corona-Pan­de­mie ist nicht nur ein Stress­test für die natio­na­len Gesund­heits­sys­teme, son­dern auch für Europa. Mit verschiedenen Maßnahmen versuchen die Länder nach wie vor die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, vor allem um die Menschen vor einer Ansteckung und deren Folgen zu schützen, und um die Gesundheitssysteme vor einem Zusammenbruch zu bewahren.

Die drastischen Einschränkungen im Frühjahr hatten im Sommer zunächst zu einer Entspannung geführt, aber schon seinerzeit war klar, dass die Corona-Pandemie noch lange nicht vorbei ist. Im Gegenteil, sie steht erneut mit voller Wucht vor der Haustür und belastet uns alle. Die Lage der Krankenhäuser in einigen Mitgliedstaaten, darunter Frankreich, Belgien und Spanien ist erneut kritisch. Während zu Beginn der Pandemie es vor allem an der Schutzausrüstung fehlte, mangelt es nun vor allem an Personal. Um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden, erlassen viele Mitgliedstaaten erneut Maßnahmen. Kontaktbeschränkungen, Schließungen von Restaurants und Bars und eine Rückkehr zur überwiegenden Telearbeit beschreiben einige davon und sollen Infektionsketten brechen.

Corona hat uns gezeigt – insbesondere zu Beginn – wie unter­schied­lich der Umgang mit der Pandemie in den ein­zel­nen EU-Mit­glied­staa­ten ist. Unabgestimmte Grenzschließungen und Kontrollen sowie die Frage was man eigentlich unter europäischer Solidarität erwarten könne, hat viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert. Dennoch: die Mitgliedstaaten haben schnell voneinander gelernt und versucht gemeinsam Lösungen zu finden und sich gegenseitig zu helfen, unter anderem durch die Bereitstellung von medizinischer Schutzausrüstung oder die Aufnahme und Versorgung von schwer erkrankten COVID-19 Patientinnen und Patienten aus anderen Ländern.

Auch die Europäische Union hat versucht in der Krise Maßnahmen im Gesundheitsbereich zu koordinieren. Anders sieht dies aus, wenn es um das Geld geht, hier hat Europa finanzielle Unterstützung in bislang noch nie dagewesener Höhe freigegeben. Wenn es aber in Notsituationen, wie der Bekämpfung des Coronavirus, um gesundheits- und sicherheitspolitische Initiativen geht, kann die EU-Kommission auch nicht mehr tun als koordinieren. Zwar verfügt die EU über Kompetenzen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und zum Gesundheitsschutz, die Organisation und Finanzierung der Gesundheitssysteme liegt aber in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten. Deswegen findet in diesem Bereich auf EU-Ebene auch nur eine eingeschränkte Zusammenarbeit statt.

Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, dass die Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten auch im Hinblick auf ihre Belastbarkeit Unterschiede aufweisen. Außerdem wurde offensichtlich, dass die Gesundheitssysteme in der gesamten EU besser ausgerüstet und koordiniert werden müssen, um auch künftigen Gesundheitsbedrohungen begegnen zu können. Deswegen wird aktuell über eine Erweiterung der Kompetenzen der Europäischen Union in bestimmten Bereichen auf politischer Ebene diskutiert.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat in ihrer Rede zur Lage der Union eine stärkere Konzentration der Zuständigkeiten auf europäischer Ebene vorgeschlagen: "Für mich liegt klar auf der Hand: Wir müssen eine stärkere europäische Gesundheitsunion schaffen, es ist Zeit". Konkrete Vorschläge der EU-Kommissionschefin sind u.a. eine Erweiterung der Kompetenzen der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) sowie des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Mitte November sollen entsprechende Vorschläge veröffentlicht werden. Zudem wurde die Einrichtung einer neuen EU-Agentur für biomedizinische Forschung und Entwicklung, ähnlich der US-amerikanischen BARDA, in Aussicht gestellt.

Die EU-Kommission steht mit dieser Idee nicht alleine da. Auch das Europäische Parlament fordert in einer aktuellen Resolution, im Bereich der Gesundheit deutlich stärker zusammenzuarbeiten, um eine Europäische Gesundheitsunion zu schaffen. Gemeinsame Mindeststandards für eine hochwertige Gesundheitsversorgung, die auf dringend notwendigen Stresstests der Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten basieren sollten, könnten nach Auffassung der Europaabgeordneten helfen. Dies wird einerseits vor dem Hintergrund des rasanten Anstiegs der Inzidenzen in Europa, andererseits in Vorbereitung etwaiger künftiger Gesundheitskrisen gefordert. Außerdem befürwortet das Parlament die zeitnahe Schaffung eines Europäischen Gesundheitsreaktionsmechanismus (European Health Response Mechanism, EHRM), um auf alle Arten von Gesundheitskrisen reagieren zu können.

Das Europäische Parlament setzt sich konsequent für die Schaffung einer kohärenten EU-Politik im Bereich der öffentlichen Gesundheit ein. Ein aktuelles Beispiel ist in diesem Zusammenhang die erfolgreiche Forderung des Parlaments nach einem eigenständigen europäischen Gesundheitsprogramm (EU4Health), das aktuell in Vorbereitung ist. Über diese aktuellen Aktivitäten hinaus hat die Europäische Union im Spannungsverhältnis zwischen primär mitgliedstaatlicher Kompetenz in der Gesundheitspolitik und einer immer tieferen wirtschaftlichen Integration schrittweise ihren Gestaltungsanspruch ausgeweitet. Diese Entwicklung wird durch die Herausforderungen um COVID-19 und einen verstärkten Fokus auf den gesamten Gesundheitssektor weiter an Dynamik gewinnen.

Es ist und bleibt eine spannende Diskussion, vor allem aber haben hier auch die Mitgliedstaaten ein entscheidendes Mitspracherecht.

Autorin: Ilka Wölfle