Die Prioritäten der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Am 9. Juni 2020 kam es zu einer doppelten Première: Unser Brüsseler Verband bot das erste „Webinar“ an, und zwar dank der Bereitstellung der nötigen Technik durch die ständige Vertre-tung Deutschlands bei der EU.

Unser Vorstandsmitglied Dr. Ariane Richter moderierte die Veranstaltung mit einer fernsehreifen Leistung. Den Auftakt bildete das Eingangsreferat von Dr. Kirsten Scholl, Leiterin der Europa-Abteilung im Bundeswirtschaftsministerium. Sie wies darauf hin, dass auf die ohnehin zahlreichen Dossiers nun die Bewältigung der Corona-Krise quasi „obendrauf“ gekommen ist. Der mehrjährige Finanzrahmen und der Wiederaufbauplan seien der eindeutige Schwerpunkt. Allerdings gebe es auch zahlreiche andere Dossiers, da sich das vor der Krise beschlossene Arbeitsprogramm der Kommission nur ein bisschen verzögert habe. Dazu gehörten ganz mondäne Dinge wie der Beschluss neuer Fangquoten aber auch die hochpolitischen Brexit-Verhandlungen. Aus Sicht ihres Hauses gebe es vier wirtschaftspolitische Herausforderungen: eine EU-Industriepolitik (Ratsschlussfolgerungen für November 2020?), die Wiederherstellung der „alten Stärke“ des Binnenmarktes (Freizügigkeit, keine Exportbeschränkungen), die Beziehungen zu China (Vertagung des EU-China Gipfels von September 2020) und die Beschleunigung der Digitalisierung.

Die Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Dr. Katarina Barley (SPD), legte den Schwerpunkt auf die Rechtsstaatlichkeit, den „Green Deal“ und ein soziales Europa. Sie befürwortete die Einführung eines „jährlichen Monitoring“ aller Mitgliedstaaten in Bezug auf ihre Rechtsstaatlichkeit. Es dürfe nicht dazu kommen, dass illiberale Demokratien wie Ungarn, Polen, neuerdings auch Slowenien und Kroatien Finanzmittel von der EU erhielten. Daher setze sie sich für eine starke Konditionalitätsklausel ein, welche auf keinen Fall während der Ratspräsidentschaft verwässert werden dürfe. Das „Schlimmste“, so Barley, sei eine weitere zahnlose Klausel, welche einer Minderheit von Mitgliedstaaten erlaubt, Finanzsanktionen der Kommission zu blockieren. Die ehemalige Generalsekretärin der SPD sprach sich auch dafür aus, den „Green Deal“ jetzt nicht zu vernachlässigen und hauptsächlich Wiederaufbauleistungen anzugehen. Insgesamt stünden sich zwei politische Lager gegenüber: diejenigen, die meinen, die EU habe zu wenig und zu spät gehandelt, weswegen sie als unbrauchbar abzuschaffen sei, stünden denjenigen gegenüber, die wegen erkannter Defizite die EU nun stärken wollten. Sie hoffe, dass das zweite Lager sich durchsetzen werde. Es gehe jetzt darum, nach der Corona-Krise einen „Kassensturz“ zu machen und in der Konferenz zur Zukunft Europas ambitionierte Vorschläge vorzulegen. Sie sehe gute Ansätze etwa in der Gesundheitspolitik.

Der Mitbegründer und einzige Abgeordnete der VOLT-Partei, Damian Boeselager, unterstrich die Chancen, die sich durch die Konferenz ergäben. Für ihn sei es wesentlich, institutionelle Reformen anzugehen. Dazu gehörten ein europaweites Wahlrecht, das Initiativrecht des Europa-Parlaments und eine effizientere Kommission. Als Mitglied des Haushaltsausschusses fordere er außerdem, dass gemeinsam beschlossene Schulden solidarisch auszugeben seien. Daher müsse das Parlament auch mitentscheiden, wie die Schwerpunkte für die Ausgaben zu legen seien. Drittens müsse das EU-System zu Asyl und Migration verbessert werden. Die humanitäre Situation in den EU-Aufnahmelagern sei inakzeptabel, wie er persönlich auf Lesbos in Erfahrung brachte; es müssten auch neue Wege der Arbeitsmigration gefunden werden. Schließlich sprach sich Boeselager dafür aus, im Bereich Digitalisierung nicht alle Karten auf EU-Autonomie zu setzen. Wichtiger sei es, die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken.

Der Direkter des Bruegel-Instituts, Guntram Wolff, wies darauf hin, dass die Rolle des Staates in der Corona-Krise enorm gestiegen sei. Es müsse daher die Frage gestellt werden, wie die Notwendigkeit staatlicher Unterstützung beim Wiederaufbau mit den Wettbewerbsprinzipien zu vereinbaren sei. So legitim das jetzige Eingreifen sei, so müsse auf Dauer darauf geachtet werden, dass keine Verzerrungen zementiert würden. Im Kommissionsvorschlag zum mehrjährigen Finanzrahmen sehe er mehr „business as usual“ als neue Akzente. Bei von der Leyen’s Wiederaufbauplan sei eine modernere Gewichtung erkennbar. Allerdings würden von den 750 Mrd. € die 250 Mrd. € an Darlehen vermutlich gar nicht voll abgerufen. Außerdem kämen die ersten Auszahlungen in den Jahren 2022-2023 zu spät. Die EU dürfe jetzt keine Chance verpassen, den Haushalt auf die zentralen Zukunftsthemen auszurichten, und nicht immer noch etwa die Hälfte für eine relative geringe Anzahl an Landwirten und für Strukturhilfen auszugeben.

Aus Sicht der Zuhörer waren damit die zentralen Themen angesprochen. Eine erste Umfrage ergab, dass für die meisten der wirtschaftliche Aufbau nach der Corona-Krise, der Green Deal und die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten die zentralen Themen für die deutsche Ratspräsidentschaft seien. Etwas dahinter kamen die Vertiefung der europäischen Integration und die Autonomie in der Außenpolitik. In den ersten beiden Podiumsrunden ging es auch um den Wiederaufbauplan und die Rolle Deutschlands. Dr. Wolff äußerte sich sehr kritisch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter hätten nicht nur die Rechtsgemeinschaft der EU angegriffen, sondern auch das Mandat der EZB unzureichend gewürdigt. Letztlich sei die Bank auf Geldwertstabilität verpflichtet, und die Interessen der deutschen Sparer seien ein politischer Belang. Insgesamt hätten die Richter damit auch die Unabhängigkeit der Bank kompromittiert. Herr Boeselager und Frau Barley pflichteten dem bei – für den VOLT-Abgeordneten zeige das Urteil den „Systemfehler“ auf. Mangels klarer föderaler Struktur sei es überhaupt möglich, den Europäischen Gerichtshof derart in seiner Rolle zu schmähen. Dies müsse in der Zukunft geändert werden.

In der vom Brüsseler EUD-Vorsitzenden Frank Hoffmeister geleiteten „chat-Runde“ erhielten die Zuhörer anschließend die Möglichkeit, an die Diskutanten mit ihren Anliegen heranzutreten. So wurde erläutert, dass ein europäisches Vereinsstatut im Rechtsausschuss beraten werde, und die 250 Mrd. an Darlehen für die Mitgliedstaaten im von der Leyen-Plan ein nur wenig besseres Zinsniveau versprächen. Als Top-Favorit für eine EU-eigene Steuer identifizierte Frau Dr. Barley die CO2-Grenzabgabe. In der Außenpolitik befürwortete Herr Boeselager den Übergang auf Mehrheitsentscheidungen im Rat: Es könne nicht sein, dass die EU-Chinapolitik etwa von Ungarn oder Griechenland bestimmt werde. Dr. Wolff erläuterte, dass soziale und grüne Anliegen im Wiederaufbau-Plan im „transition funds“ durchaus aufgehoben seien und dass einem Griechenland „echt leid“ tun könne. Das Land habe sich gerade stabilisiert, und nun drohten mit dem Wegbrechen der Tourismus-Einnahmen eine neue Krise. Er könne daher nicht zuverlässig auf die Frage antworten, wie die Schuldentragfähigkeit des Landes heute einzuschätzen sei. Frau Dr. Barley antwortete auf die Schlussfrage über Erfolgsaussichten der Rechtsstaatskonditionalität im neuen Finanzrahmen, dass sie dadurch ermutigt sei, dass die Kommission an ihrem Vorschlag festhalte. Allerdings dürfe Deutschland im Rat hier keine „schlechten Kompromisse“ machen.

Dr. Richter schloss die Veranstaltung mit einem „quick-fire“ an die drei Podiumsteilnehmer: Werden wir im Jahr 2050 nicht nur ein klimaneutrales Europa haben, sondern auch die Vereinigten Staaten von Europa? Ja oder Nein? Am Ende stand es 2:1 für Europa … 

Autor: Prof. Dr. Frank Hoffmeister